Urteil des Landgerichts Stuttgart zu Sitzblockaden bei Nordflügel-Abriss: Rechtswidrig, aber nicht verwerflich – Freispruch
Auch das Erfreuliche und Ermutigende soll Euch nun nicht länger verschwiegen werden. Hier der Bericht von Gerhard über seine Verhandlung vor dem Landgericht.
Am Mittwoch, 12.4.2014 fand beim Landgericht die Berufungsverhandlung zu 6 Sitzblockaden während des Abrisses des Nordflügels des Hauptbahnhofs im Jahr 2010 statt. Die Anklage lautete: Der oben Genannte ist angeklagt, er habe in 6 rechtlich selbständigen Handlungen jeweils gemeinschaftlich einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt, in dem er in sechs Fällen mit den jeweiligen Mittätern an (derartigen) Blockaden teilnahm, bei denen sie im bewussten und gewollten Zusammenwirken durch auf der Zufahrt zur Baustelle stehende und sitzende Personen jeweils ein Baustellenfahrzeug an der Weiterfahrt hinderten und dieses blockierte Fahrzeug bewusst dazu benutzten, die Einfahrt für nachfolgende weitere Kraftfahrer zu versperren. Gemeint sind dabei 6 der zwischen Ende August und Ende September 2010 stattfindenden Protestversammlungen mit Sitzblockaden gegen den Abriss des Nordflügels des Hauptbahnhofs. Das Amtsgericht Stuttgart hatte im April 2013 zu 30 Tagessätzen á 20 Euro verurteilt mit der Begründung, bei den Protesten vor dem Nordflügel habe es sich zwar um durch Art. 8 des GG geschützte Versammlungen gehandelt, die von der Polizei nicht aufgelöst wurden; es seien aber dennoch die vom § 240 für eine Strafbarkeit einer Nötigung geforderten Faktoren der Gewaltanwendung und der Verwerflichkeit vorgelegen. Gewaltanwendung wg. der sog. 2. Reihe – Rechtsprechung und Verwerflichkeit, weil die Versammlungen nahezu täglich statt gefunden hätten und deshalb nicht mehr das Ziel hätten verfolgen können, öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen, sondern nur noch, den Abriss des Bahnhofs zu verhindern oder zu verzögern. Gegen dieses Urteil hatte sowohl die Staatsanwaltschaft als auch ich Berufung eingelegt. Bei der 6 1/2 stündigen Berufungsverhandlung vor dem Landgericht wurden nun am Mittwoch vom Vorsitzenden Richter 10 Zeugen aufgerufen (LKW-Fahrer und Kriminalbeamte, sowie ein einmal vor Ort anwesender Polizeibeamter) und 6 der insgesamt 17 von den Ermittlungsbehörden vorgelegten Video-DVDs über den Ablauf der Versammlungen in Augenschein genommen, vor allem um die Dauer der Blockaden und die Zahl der an der Weiterfahrt gehinderten LkWs festzustellen. In meiner Einlassung hatte ich zu Beginn dargelegt, dass unsere Versammlungen vor der Abrissbaustelle zum Ziel hatten, die Öffentlichkeit darauf hinzuweisen, dass hier mit dem Beginn des Projekts Stuttgart 21 Stadt-, Lebensraum- und Kulturzerstörung stattfindet und sich möglichst viele Menschen dem Projekt, für das noch nicht einmal wirklich abschließende Genehmigungen vorliegen, in den Weg stellen müssen, um das unnütze und zerstörerische Projekt zu stoppen. Dabei sei uns allen klar gewesen, dass wir durch unsere demonstrativen Sitzblockaden nicht eine Beendigung der aktuellen Abrissarbeiten erreichen können, auch nicht wenn wir noch viel mehr Menschen hätten zur Teilnahme bewegen können. Wenn sich aber tausende von Menschen wie wir dem Projekt aktiv entgegenstellen würden, hätte der Abriss zwar immer noch durch entsprechende Polizeieinsätze weitergeführt werden können, das Gesamtprojekt wäre aber irgendwann politisch nicht mehr durchsetzbar gewesen. In jedem Fall richtete sich unser demonstrativer Protest nicht gegen die Tätigkeit der aufgehaltenen LkW-Fahrer, sondern gegen das Stadtzerstörungs- und Bahn-Rückbau-Projekt Stuttgart 21 als ganzes. In meinen weiteren Ausführungen habe ich u.a. versucht, deutlich zu machen, warum Stuttgart 21 nicht durch noch so gute Argumente, sondern nur durch aktiven Widerstand beendet werden kann. Die Befragung der LkW-Fahrer durch den Richter richtete sich vor allem auf die Feststellung, wie lange sie jeweils durch die Blockaden aufgehalten wurden, ob sie durch die Blockierer_innen oder durch ein vor ihnen stehendes Fahrzeug zum Anhalten gezwungen wurden (dabei sagten interessanterweise alle, die in der “zweiten Reihe”, also hinter einem anderen LkW zum Stehen kamen aus, sie seien direkt durch die Demonstranten zum Anhalten gebracht worden. Eine weitere Frage des Richters an alle LkW-Fahrer war, ob durch die Verzögerung bei der Abholung von Abrissmaterial die Abrissarbeiten beeinträchtigt wurden. Und hier erklärten alle, die Abrissarbeiten seien nie unterbrochen worden. Eine weitere wiederholte Frage war darauf gerichtet, ob sich die Fahrer bzw. ihre Firmen hätten darauf einstellen können, dass zu bestimmten Zeitpunkten die Baustelle von Demonstranten blockiert werde. Die meisten sagten, dass sie damit rechnen konnten, bzw. ihre Firmen davon gewusst hätten. Einen interessanten Aspekt ergab die Befragung der Kriminal- und Polizeibeamten, die zuerst von der Verteidigung, dann aber auch vom Richter gefragt wurden, ob die Versammlungen durch eine Verfügung des Ordnungsamtes von der Polizei aufgelöst worden seien. Alle erklärten, eine Auflösung sei nicht erfolgt, weil nicht von Versammlungen, sondern von sog. “Verhinderungsblockaden” ausgegangen worden sei. Die Nachfragen von mir und meinem Verteidiger, nach welchen Kriterien die Polizei jeweils vor Ort die Einschätzung vornehme, ob es sich um Versammlungen oder Blockaden ohne Versammlungscharakter handele, förderte folgendes zu Tage: Schon ziemlich zu Beginn der Abrissarbeiten und den sie begleitenden Protesten habe die Polizeiführung von der Staatsanwaltschaft eine “Matrix” erhalten, die dann als “Handreichung” für die Einsatzleiter vor Ort weitergegeben worden sei. Darin sei festgelegt, wann eine Ansammlung als eine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG zu werten sei und wann nicht. Über den Inhalt dieser “Handreichung” konnten die Kriminalbeamten keine Auskunft geben. Der ebenfalls angehörte einmal vor Ort den Einsatz leitende Polizeibeamte erklärte, das hänge von so Dingen ab, ob Transparente gezeigt und Parolen gerufen würden. Auf den Vorhalt, das sei doch aber immer der Fall gewesen, meinte er, ja, aber es seien nur wenig Transparente gewesen und die Protestierer hätten meist nur gepfiffen und Lärm gemacht. In seinem Plädoyer betonte dann Staatsanwalt Kraft auffällig häufig, dass er den Angeklagten und die anderen Blockierer/innen keinesfalls für Kriminelle halte und in den vorliegenden Fällen auch die durch die Straftaten erfolgten Beeinträchtigungen anderer Personen eher als geringfügig betrachtet würden. Und keinesfalls wolle man in irgendeiner Weise das Grundrecht der Versammlungsfreiheit in Frage stellen. Wie er dann die Kurve kriegte, um daraus zum Antrag zu kommen, die Strafe müsse um 10 Tagessätze höher ausfallen als vom Amtsgericht ausgesprochen, weiß ich jetzt nicht mehr. Er hat es jedenfalls geschafft. RA Walter Zuleger wies in seinem hervorragenden Plädoyer noch einmal auf die Zerstörungen hin, die mit S 21 verbunden sind, und vor allem auf die noch immer fehlenden Genehmigungen und warum auch die Volksabstimmung keinerlei zusätzliche Legitimierung darstellt. Er stellte das sog. Zweite Reihe Urteil des BGH in Frage und betonte, dass im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht die Rechtsprechung des BGH keine rechtsbindende Wirkung entfalte. Er verwies auf ein Urteil des BVerfG aus dem Jahr 2001 (Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 24.10.2001), in dem aufgelistet wird, wann die Teilnahme an einer vom Art. 8 GG geschützten Versammlung, die zur Nötigung anderer Personen führt, das Kriterium der Verwerflichkeit erfüllt und kam zum Ergebnis, dass in den vorliegenden Fällen weder von Gewalt noch von Verwerflichkeit ausgegangen werden kann. Er forderte daher Freispruch. Das Urteil: Die Berufung der Staatsanwaltschaft wird abgewiesen. Das Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom April vergangenen Jahres wird aufgehoben. Der Angeklagte wird freigesprochen. In seiner Urteilsbegründung stellte Richter Wagner zunächst fest, dass es sich bei den Sitzblockaden vor dem im Abriss befindlichen Nordflügel in allen Fällen um durch Art. 8 GG geschützte Spontanversammlungen gehandelt habe, die von der Polizei nicht aufgelöst worden sind. Er richtete sich dann ausdrücklich an die wenigen zu dieser Zeit noch anwesenden Zuhörer (“gut dass noch Öffentlichkeit anwesend ist”), um sie nachdrücklich davor zu warnen, sich an solchen Aktionen zu beteiligen, weil diese rechtswidrig seien und man immer dabei Gefahr liefe, auch eine Straftat zu begehen. Es könnten nämlich durchaus auch die Teilnahme an einer vom GG geschützten Versammlung eine strafbare Nötigung sein. So sei auch in den vorliegenden Fällen eine Nötigung mit Gewalt anzunehmen. Das zweite Reihe Urteil des BGH halte er durchaus für richtig und auch hier für zutreffend. Anders sei es bei der Frage der Verwerflichkeit. Dabei bezog er sich auf das von der Verteidigung angeführte Urteil des BVerfG, das er offensichtlich kannte und auch verstanden hatte. Es sei, so Richter Wagner, bei der Untersuchung, ob Verwerflichkeit vorliege zu berücksichtigen: die Dauer und Intensität (wie viele Menschen betroffen sind) der Nötigung, ob die Betroffenen mit den Behinderungen hätten rechnen können (hier spreche die Nicht-Ankündigung der Blockaden eher für Verwerflichkeit), die Dringlichkeit der Anlieferung und Abholung der Schuttmulden, der Sachbezug (ob nur zum Protestgegenstand gehörende, oder auch Unbeteiligte von den Behinderungen betroffen sind), die Zahl der Demonstranten im Verhältnis zur Zahl der Polizeibeamten hinsichtlich der Möglichkeiten, wie schnell und einfach die Blockaden von der Polizei beseitigt werden können. In den vorliegenden Fällen sprächen nun viele der Bedingungen gegen eine Verwerflichkeit und nur wenige dagegen, wobei die dafür sprechenden dazu noch weniger schwer wiegen.
Kleines Video von einer Sitzblockade vor dem Nordflügel:
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Und hier der Abriss im Zeitraffer – irgendwie makaber:
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Einlassung von Gerhard
Hier klicken, dann könnt ihr die Einlassung lesen: