Wie geht es weiter bei Stuttgart 21?

von Wolfgang Sternstein

Zunächst ein Blick zurück in die Vergangenheit. Anfang April 1979 erklärte der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht die Wiederaufbereitungsanlage bei Dragahn im Wendland für politisch nicht durchsetzbar. Wörtlich sagte er: „Obwohl ein nukleares Entsorgungszentrum sicherheitstechnisch grundsätzlich realisierbar ist, empfiehlt die Niedersächsische Landesregierung der Bundesregierung, das Projekt der Wiederaufbereitung nicht weiter zu verfolgen.“ Mit dem milliardenschweren Projekt einer Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstoffe wollte die Bundesrepublik mit England (Windscale, später in Sellafield umbenannt) und Frankreich (La Hague) gleichziehen. Doch das Projekt scheiterte am massiven gewaltlosen Widerstand der Bevölkerung im Wendland und im ganzen Bundesgebiet. Der „Gorleben-Treck“ aus 150 riesigen Treckern war tagelang in die Landeshauptstadt unterwegs. Er traf am 31. März 1979 in Hannover ein, wo er von einer mehr als hunderttausendköpfigen Menschenmenge begeistert begrüßt wurde. Ich war damals mit meinem dreizehnjährigen Sohn dabei und erinnere mich noch gut an dieses bewegende Ereignis.

Einige Jahre später meinte der Ministerpräsident von Bayern, Franz Josef Strauß, er sei Manns genug, das Projekt durchzusetzen. Er ließ im Taxöldener Forst bei Wackersdorf eine mehrere Hektar große Lichtung in den Wald schlagen und mit einem vier Meter hohen Stahlgitterzaun gegen Demonstranten sichern. Doch seine Rechnung ging nicht auf. Der Widerstand war im Süden der Republik nicht geringer als im Norden. Schließlich wurde das Projekt auch in Bayern aufgegeben, denn zum Widerstand der Bevölkerung kamen die Bedenken der deutschen Atomindustrie im Hinblick auf die unkalkulierbaren Risiken der Atomtechnik hinzu. Desgleichen scheiterte das Sieben-Milliarden-Projekt des Schnellen Brüters bei Kalkar am Niederrhein am Widerstand der Anti-AKW-Bewegung.

Heute gibt es unter Gegnern wie Befürwortern wohl niemanden mehr, der nicht froh ist über das Scheitern dieser Projekte. Das könnte eines Tages auch auf das Projekt Stuttgart 21 zutreffen, obwohl die Bevölkerung in der Stadt darüber heute noch tief gespalten ist.

Zu unterscheiden ist bei S 21, wie bei anderen Großprojekten auch, zwischen einer Sachebene und einer Machtebene. Was die Sachargumente anbelangt, so zeigte sich bereits beim Faktencheck Heiner Geisslers, dass der angestrebte Nutzen des Projekts in keinem vertretbaren Verhältnis zu den zu erwartenden Kosten und Risiken steht, ganz zu schweigen von den schweren Eingriffen in die Stadtökologie und die Lebensqualität der Stuttgarter Bevölkerung während der fünfzehnjährigen Bauzeit.

Die zweite Ebene ist die Machtebene. Wer, so lautet hier die Frage, hat das Sagen bei diesem Projekt, unabhängig davon, ob es sinnvoll oder sinnlos ist? Für die Befürworter von S 21 ist die Frage längst beantwortet: die Mehrheit der Volksvertretungen in Stadt, Land und Bund! So selbstverständlich, wie es scheint, ist es aber nicht, wie sich am Beispiel des Atomkraftwerks Wyhl am Oberrhein, des Schnellen Brüters bei Kalkar und der Wiederaufbereitungsanlage bei Dragahn bzw. Wackersdorf gezeigt hat. Auch in der repräsentativen Demokratie gilt der Verfassungsgrundsatz: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ (Art. 20, 2 GG) Ausdrücklich werden in diesem Artikel die „besonderen Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ erst an dritter Stelle genannt. Bis heute haben sich die Politiker auf Bundesebene geweigert, diesen Verfassungsauftrag zu erfüllen und eine gesetzliche Regelung für den Volksentscheid auf Bundesebene zu beschließen. Baden-Württemberg hat zwar auf Landesebene eine derartige Regelung, sie läuft aber im Ergebnis auf eine Verfassungsnorm zur Verhinderung von Volksentscheiden hinaus. In Fällen, bei denen von staatlichen Entscheidungen betroffenen Bürgerinnen und Bürgern das Recht auf Mitbestimmung praktisch verweigert wird, steht ihnen der zivile Ungehorsam als legitimes Mittel des Widerstands zu Verfügung.

Meine Erfahrung als Friedens- und Konfliktforscher sagt mir, dass ein Volksentscheid eine befriedende Wirkung nur entfalten kann, wenn er von den Betroffenen als fair empfunden und akzeptiert wird. Was voraussichtlich im Koalitionsvertrag von Grün-Rot zu Stuttgart 21 stehen wird, wird von den Betroffenen wohl kaum als fair akzeptiert werden. Das wäre nur dann der Fall, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:

  1. Abstimmungsberechtigt dürfen nur die Betroffenen sein, und das sind in erster Linie die Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger. Was interessiert einen Landwirt aus Oberschwaben oder einen Handwerker aus dem Hohenlohischen der Stuttgarter Bahnhof! Entweder geht er gar nicht zur Abstimmung oder er stimmt aus sachfremden Motiven ab.
  2. Das Quorum darf nicht zu hoch sein. Ein Fünftel Ja-Stimmen für die Vorlage halte ich für vertretbar.
  3. Die Chancengleichheit bei der Information der Abstimmungsberechtigten über die Vorlage muss gewährleistet sein.
  4. Im Fall von Stuttgart 21 muss die Finanzierung des Projekts gesichert und die Verfassungsmäßigkeit der Mischfinanzierung durch Stadt, Land, Bund und Bahn geklärt sein.

Der von Grün-Rot ausgehandelte Kompromiss hat meines Erachtens keine Chance, von den Betroffenen angenommen zu werden, weil das Quorum von einem Drittel der Abstimmungsberechtigten bei einer landesweiten Abstimmung über dieses Projekt praktisch nicht erreicht werden kann. Die SPD-Politiker wissen das auch. Man merkt die Absicht und ist verstimmt, ja empört.

Wir werden sehen, ob eine grün-rote Landesregierung es wagen wird, das Projekt gegen den Widerstand der betroffenen Bürgerinnen und Bürger mit Polizeigewalt durchzusetzen. Ich empfehle ihr, die Fälle Wyhl, Kalkar, Dragahn und Wackersdorf aufmerksam zu studieren. Meines Erachtens ist das Scheitern von S 21 unabwendbar, sofern die Stuttgarter Bevölkerung bereit ist, den Preis zu bezahlen, den gewaltfreier Widerstand nun mal kostet.

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