Bernhard


Rede der Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Gemeinderat der Stadt Stuttgart zu den Beratungen über den Doppelhaushalt 2014/2015, gehalten am Donnerstag, 24. Oktober 2013

Sehr geehrter Herr OB,
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen im Gemeinderat,

wir alle wissen, dass die Beratungen zum Doppelhaushalt 2014/2015 unter äußerst belastenden Rahmenbedingungen stattfinden müssen. Die wirtschaftliche Entwicklung der beiden letzten Jahre hat dazu geführt, dass die Steuereinnahmen in einem bedrückenden Maß zurück gegangen sind, während gleichzeitig weitere Aufgaben auf uns zukommen. So haben sich vor allem im Verlauf der Arbeiten an unserem Zukunftsprojekt Stuttgart 21 Schwierigkeiten ergeben, die beim besten Willen nicht vorhergesehen werden konnten. Nicht nur steigende Rohstoffpreise und geänderte Tarifverträge sind erschwerende Faktoren – auch die Ausführung selbst stellt uns vor neue Probleme: Ich nenne nur den ersten Abschnitt der Baugrube mit dem Einrammen der Betonpfähle, den Tunnel unter dem Neckar, den Fildertunnel, die Beherrschung des Grundwassers und einzelne Messergebnisse betr. die Mineralquellen. Dadurch sind bereits jetzt erhebliche Mehrkosten aufgetreten, und die Gesamtplanung musste zeitlich gestreckt werden. Es war zu erwarten, dass all dies von Kritikern, denen es vor allem an Sachkenntnis und Einsicht fehlt, übermäßig aufgebauscht würde. Dies nehme ich zum Anlass, um bereits jetzt mit Nachdruck zu betonen:
Unsere Fraktion steht nach wie vor unbeirrt zu diesem Jahrhundertwerk. Was wir vor fast 20 Jahren als richtig erkannt haben kann jetzt nicht falsch sein.

Aber lassen Sie mich zunächst einen Blick zurück werfen. Nach langen, vielfach unnötigen Diskussionen und fragwürdigen Aktionen, die den Baubeginn gezielt verzögern wollten, konnten 2010 endlich größere Arbeiten unternommen werden. Eine wesentliche Voraussetzung dafür war die Unterzeichnung des Finanzierungsvertrags im April 2009, die Teile der Öffentlichkeit überrascht hat. Aber schon die Vorstellung des Gesamtprojekts hatte ja der damalige Vorstandsvorsitzende der Bahn, Herr Dürr, treffend charakterisiert. Ich darf zitieren: „Die Art der Präsentation im April 1994 war ein überfallartiger Vorgang. Gegner und Skeptiker sind nicht im Stande gewesen, die Sache zu zerreden. Ein Musterbeispiel, wie man solche Großprojekte vorstellen muss.“ Ende des Zitats. Überlegen Sie, was uns alles erspart geblieben wäre, wenn man diese Linie konsequent weiter verfolgt hätte! Zumindest beim Grundsatzbeschluss des Gemeinderats im November 1995 war die Bereitschaft zu zügigem Handeln noch festzustellen. Immerhin haben sich damals die Ausschüsse für die Beratungen volle drei Tage Zeit genommen. Vorwürfe, die Stadträte hätten damals nicht sorgfältig genug geprüft, entbehren also jeder Grundlage. Und alle Versuche, diese demokratisch legitimierte Entscheidung auszuhebeln – etwa durch einen sogenannten Bürgerentscheid – hat danach nicht nur eine breite Mehrheit im Gemeinderat entschlossen abgewehrt. Wir wurden darin auch durch mehrfache Gerichtsurteile bestätigt. Für diese Klarstellung sei der Justiz an dieser Stelle ausdrücklich gedankt.

Nachdem aber die Angriffe der Fortschrittsgegner immer heftiger wurden und selbst umfangreiche Schlichtungsgespräche keine Befriedung hergestellt hatten, wurde im November 2011 zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes eine Volksabstimmung durchgeführt – und ich darf anmerken, dass diese vor allem durch Einwirken meiner Partei zustande kam. Zur Ausarbeitung eines umfangreichen, ausgewogenen Informationsangebots für die Bürger hatten wir uns zuvor mit bewährten, staatstragenden Kräften zusammenschließen können: Ich erwähne die Vertreter von CDU und FDP, aber auch die Unternehmerverbände. Auch der Regionalrat wurde seiner Verantwortung gerecht und stellte dafür 1 Million EUR zur Verfügung. Unser Landesvorsitzender, Herr Schmid, hat solche Verbindungen mit Recht als „gesellschaftliche Bündnisse“ bezeichnet. Dabei beschränkten sich die Aussagen derer, denen an einer besseren Zukunft für unsere Stadt und unser Land gelegen war, auf ruhige, sachbezogene Argumente. Ich erwähne nur den Vorstandsvorsitzenden der Bahn, Herrn Grube („Ein solches Geschenk kann man nicht ablehnen“), Verkehrsminister Ramsauer (in der Stuttgarter Zeitung: „Ausstieg wäre ein Horrorszenario für Stuttgart“) oder den Vorsitzenden unserer Landtagsfraktion, Herrn Schmiedel („Auf S 21 ruht Gottes Segen“). Dagegen versuchten unbelehrbare Kritiker durch vage Hinweise auf angebliche Risiken, drohende Kostensteigerung oder Mängel der neuen Verkehrsstruktur – natürlich nur mit äußerst dürftigem Faktenbezug – lediglich irrationale Ängste zu schüren. Unser gemeinsames Handeln hat dann auch seine Wirkung nicht verfehlt. So konnten wir erreichen, dass Vernunft und Einsicht sich durchsetzten, während demagogischer Parolen und z.T. rechtswidrige Umtriebe erfolglos blieben. Zwar wurde das von der Verfassung vorgegebene Quorum nicht erreicht, aber wir durften uns freuen, dass als Endergebnis eine Mehrheit im Land den Ausstieg ablehnte. So haben die Bürger in Weinheim, Künzelsau, Lörrach oder Tettnang – um nur einige Orte namentlich zu nennen – einen neuen Bahnhof für Stuttgart befürwortet und ließen damit mehr staatsbürgerliche Verantwortung erkennen als viele in der Landeshauptstadt. Kann man sich eine überzeugendere demokratische Legitimation wünschen? So sah sich auch die Landesregierung gezwungen, Vertragstreue zu wahren und die Weiterführung der Arbeiten organisatorisch und finanziell zu fördern. Leider waren einzelne Gruppierungen nicht bereit, die Entscheidung der Mehrheit zu akzeptieren und versuchten, sich vor allem dem Rückbau des Südflügels und der Befreiung des Schlossparks von störender Vegetation zu widersetzen. Dabei kam es in der Tat zu sehr unerfreulichen Szenen, aber durch den sorgfältig vorbereiteten Einsatz unserer Sicherheitskräfte war man bald Herr der Lage. Wir dürfen allen Mitwirkenden, besonders auch den Einheiten aus anderen Bundesländern, für ihr tatkräftiges Handeln danken. Sie waren z.T. hohen Belastungen ausgesetzt, haben aber einmal mehr dazu beigetragen, den Rechtsstaat zu verteidigen. Wenn einzelne Krawallmacher zu Schaden kamen, so haben sie sich das selbst zuzuschreiben.

Nun sind bei der Weiterführung der Arbeiten verschiedene Schwierigkeiten aufgetreten, die nicht vorherzusehen waren. Die Planung und die Entscheidung der Parlamente konnte sich seinerzeit auf wissenschaftliche Gutachten unabhängiger Fachkräfte und Gremien und umfassende Information durch die Bauträger stützen und erfolgte somit auf dem bestmöglichen Erkenntnisstand. Auch die Finanzierung war sorgfältig erwogen und bis ins Einzelne vertraglich abgesichert. Jetzt wird natürlich von bestimmter Seite der Vorwurf erhoben, man habe ja schon lange gewarnt, aber die Einwände seien nicht berücksichtigt worden. Dazu können wir nur sagen: In die Vergangnehit gerichtete Schuldzuweisungen nützen uns hier und heute nichts – überhaupt nichts. Sie dienen allenfalls fadenscheinigen parteipolitischen Interessen. Wir müssen uns bemühen, die Probleme sachlich und vernünftig anzugehen und möglichst gemeinsam – ich betone gemeinsam – nach einer Lösung zu suchen, die unsere Zukunft sichert. Will man sich denn jetzt, wo sich herausstellt, dass zusätzliche Mittel erforderlich werden, lediglich auf frühere Erwartungen berufen? Konkret: soll die Baugrube, sollen die begonnenen Tunnel etwa halbfertig liegen bleiben? Können wir den Bürgern gegenüber verantworten, dass so riesige Summen – überwiegend aus Steuergeldern – verbaut wurden, das Projekt aber nicht zu Ende geführt wird?

Alle, denen Rechtssicherheit und Zuverlässigkeit in staatlichem Handeln einen hoher Wert darstellt, werden sich zu dem Grundsatz bekennen, dass Verträge einzuhalten sind – wir leben schließlich in einem Rechtsstaat. Wir wissen uns da in Übereinstimmung mit einem hoch angesehene Staatsmann wie F.J. Strauß, der dies vorzugsweise in der lateinischen Fassung vorzutragen pflegte: „Pacta sunt servanda“. Auf der anderen Seite ist allerdings auch zu berücksichtigen: Rechtliche Regelungen dürfen nicht dazu führen, dass dem Allgemeinwohl dienende Maßnahmen und Vorhaben über Gebühr eingeschränkt oder behindert werden. So ist auch beim Bezug auf Einzelheiten des Grundgesetzes, auf Bestimmungen über Umweltschutz, Naturschutz oder auch den Einsatz von Ordnungskräften das rechte Augenmaß zu wahren. Es war erfreulich zu sehen, dass mehrfach Gerichte die geltenden Regeln ausreichend flexibel auszulegen wussten. Unser Dank gilt auch dem Bundesministerium für Verkehr und dem Eisenbahnbundesamt, die beide in einer ganzen Reihe von Punkten Ausnahmeregelungen erließen, um das Gesamtprojekt nicht zu gefährden.

In der heutigen Situation bewähren sich nun Einzelheiten des 2009 abgeschlossenen Finanzierungsvertrags. Dort hatte man ja in kluger Voraussicht für einen möglichen Rückzug nur eine Frist von wenigen Monaten vorgesehen, falls nämlich bis Jahresende erhöhte Kosten nachgewiesen werden könnten. Danach sei ein Ausstieg nicht mehr möglich, und die Vertragspartner – Stadt, Land und Bund, aber nicht die Bahn – müssten dann Gespräche aufnehmen: Das kann nur bedeuten, dass sie die zusätzlichen Kosten übernehmen. Diese Situation ist jetzt gegeben, und wir werden unseren Verpflichtungen nachkommen. Wer sich seiner Verantwortung für unser Land bewusst ist, muss bereit sein, die abzusehenden Lasten zu schultern, die natürlich in angemessener Weise auf die Partner zu verteilen sind. Ich appelliere an Sie: Machen Sie den Bürgern unserer Stadt verständlich, dass auch wir uns dem nicht entziehen können. Dabei ist es nicht zu vermeiden, dass es bei der Verteilung der Mittel im kommenden Doppelhaushalt schmerzliche Einschnitte geben wird, bei den Personalausgaben wie bei den Investitionen. Manche Dienstleistung kann nicht mehr erbracht werden, manches noch so wünschenswerte Projekt werden wir reduzieren, verschieben oder ganz streichen müssen. Verschiedene Vergünstigungen können nicht mehr gewährt werden, und eine Reihe von Gebühren wird man anheben müssen. Das wird alle Bereiche treffen – auch Soziales, Schulen, Kinder und Jugend, Gesundheitsversorgung, Theater und Büchereien,. Unsere Fraktion hat sich bemüht, dies in den vorgelegten Anträgen angemessen zu berücksichtigen. Ich darf Ihnen versichern: Wir haben uns das nicht leicht gemacht! Uns ist bewusst, dass es jetzt in der Bevölkerung manche Enttäuschung, manchen Unmut geben wird – aber im Interesse unserer großen Zukunftsaufgabe sollten wir alle bereit sein, das auf uns zu nehmen.

Ich darf auch auf die Landesregierung verweisen, die ihrerseits schon erste Schritte unternommen hat, um der gegebenen Lage zu entsprechen: So wurden bereits die Mittel für die Förderung des Regionalverkehrs reduziert, und weitere Maßnahmen werden folgen. Überhaupt kann ein Blick über den Tellerrand gerade jetzt hilfreich sein. Im Interesse von Baden-Württemberg muss ein angemessenes Verhältnis zwischen den verschiedenen Verkehrsformen gewahrt werden. In einem Land, das so eng mit der Automobilindustrie verbunden ist, sollten wir auch bei der Verlagerung von der Straße auf die Schiene Übertreibungen vermeiden. Unsere Haltung zum Kraftfahrzeug hat ja unser Landesvorsitzender schon deutlich gemacht: „Wir haben Benzin im Blut.“ Und was generell Bauvorhaben betrifft, so darf man das Abwägen von Vor- und Nachteilen einzelner Projekte nicht überspitzen. Es kommt doch vor allem darauf an, dass überhaupt etwas geschieht, dass Arbeitsplätze gesichert oder sogar neue geschaffen werden – das gilt z.B. auch für den Rosensteintunnel. Ich darf erneut unseren Kollegen Schmiedel zitieren, der das in eine prägnante Formel gebracht hat: „Wo ein Bagger steht, geht es uns gut.“ Und berücksichtigen Sie bitte auch: Ein neuer Bahnhof am Flughafen dient nicht zuletzt einer Förderung des Flugverkehrs.

Uns allen werden jetzt schmerzliche Opfer abverlangt, aber gerade in einer schwierigen Lage sollten wir nicht den Mut verlieren. Es handelt sich um eine einmalige Phase, eine Ausnahmesituation. Nach allen vorliegenden Informationen sind in Zukunft bei Stuttgart 21 keine weiteren zusätzlichen Belastungen zu erwarten. Manche von Ihnen werden sich noch erinnern, wie mein Vorgänger im Amt des Fraktionsvorsitzes seine Haltung zu Vorlagen der Verwaltung zu charakterisieren pflegte: „Ich glaube, ich vertraue …“ Gerade dies ist jetzt in besonderem Maße vonnöten: Vertrauen!

Ein so weitreichendes Projekt darf nicht durch kleinmütiges Nörgeln und Feilschen gefährdet werden. Denken wir nicht nur an die jetzt anstehenden Belastungen, sondern sorgen wir für das Wohl kommender Generationen! Ich bitte Sie daher, meine Damen und Herren, den von uns vorgelegten Anträgen zuzustimmen. Erlauben Sie mir, zum Schluss ein bekanntes Wort von Willy Brandt leicht zu variieren: Wir wollen mehr Zukunft wagen!
Ich danke Ihnen.