Istanbul im Juni 2013 – „Kommen Sie auf eine Tasse Tee vorbei und wir retten zusammen die Welt!“

Ich hatte das Vergnügen 5 Tage in Istanbul zu verbringen.
Wir verweilten schon 1 1/2 Tage dort, als wir uns zum Taksimplatz aufmachten.
Bis dahin hatten wir noch nichts von Demos mitbekommen. Es war
Samstag, der 15.6.2013. Der Platz war voll von Menschen. Zum Gezi-Park war kein Durchkommen. Die Stimmung war fröhlich, voller Power! Man hatte den Eindruck, dass vor allem Frauen an diesem Abend den Ton angeben. Sie zogen lautstark, mit einer unglaublichen Dynamik, teilweise halb tanzend und immer Arm in Arm oder Hand in Hand über den ganzen Platz. Stimmungsmässig – der Wahn!!!!!
Aussen herum stand die Polizei, Helme im Arm, teilweise mit gezücktem Gewehr!, mehrere Wasserwerfer und die Feuerwehr. Es fühlte sich an, als ob alles nur beobachtet wurde. Eigentlich war die Stimmung, meinem Gefühl nach gut.

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Umso mehr waren wir überrascht, am Sonntag nachmittag per SMS aus Deutschland zu erfahren was passiert war. Wir waren mit einem Fährboot unterwegs. Dort wurde über einen grossen Bildschirm die Kundgebung Erdogans übertragen. Als wir dann auf der
europäischen Seite wieder ankamen, war dort eine große Demo im Gange. Ein großer Platz (Hauptverkehrsstraße zum Taksimplatz) wurde blockiert. Busse wurden gestoppt (Verkehrsmäßig ist das eine andere Nummer als bei uns) Jetzt fuhr auch keine Metro mehr in Richtung Taksimplatz oder in Richtung Demo. Polizei haben wir zu diesem Zeitpunkt nicht gesehen. Der Taksimplatz war zwischenzeitlich total abgeriegelt und die Demonstranten versuchten, auf verschiedenen Wegen dorthin zu gelangen.
Wir gingen zu Fuß Richtung Stadtmitte. Menschenmassen strömten uns entgegen.
Die meisten ausgerüstet mit Bauhelm, Taucherbrille und Mundschutz. Diese Utensilien wurden unterwegs auch ständig verteilt. Die Stimmung hatte sich zum gestrigen Tag völlig verändert. Die Menschen waren zum Teil völlig fertig, sehr ernst, bedrückt, geschockt aber absolut entschlossen weiter zu machen. Wer weiß, was Sie alles in der Nacht erlebt hatten. Gefühlt waren die Demonstranten zu 75 % junge Menschen im Alter von 18 -– 30 Jahren, sehr viele Frauen, aber auch Ältere, Frauen mit Kopftuch und “der Otto-Normalverbraucher “. Sehr beeindruckend fand ich, dass ein Großteil der Bevölkerung die nicht mit demonstrierten, die Demonstranten beklatschten. Sie klatschten in die Hände, schrien irgendwelche Parolen oder klinkten sich in die Rufe der Demonstranten ein. Sie blieben entweder stehen oder klatschten beim Weiterlaufen, teilweise öffneten sich Fenster und die Menschen klatschten nach unten. Das war dermaßen emotional. Man hatte den Eindruck, eine grosse Mehrheit der Bevölkerung (zumindest auf der westl. Seite) solidarisiert sich mit den Demonstranten. So etwas habe ich hier nie erlebt!

Im alten Teil von Istanbul bekam man davon allerdings nichts mit. Dort lief alles weiter wie die Tage zuvor, als ob nichts geschehen wäre. Da ich nicht türkisch spreche und verstehe, ist das natürlich nur ein Eindruck.

Am Montag hatten wir dann noch das Glück mit einem gut deutsch sprechenden Türken ins Gespräch zu kommen. Er berichtete, dass er sich an den Demos wenig beteilige, aber aktiv über Twitter und Facebook tätig sei. Er müsse auch damit rechnen verhaftet zu werden. Alles werde abgehört und verwertet. Am Samstag seien auf dem Taksimplatz viele Ärzte, die sich um Verletzte kümmern wollten, verschwunden. Keiner weiß, wohin sie verschleppt wurden. Einige Zeitungen und Radiosender wurden geschlossen. Wobei es noch einige gibt, die über den Widerstand berichten. Er verglich Erdogan mit Hitler und sagte man kann ihm nicht über den Weg trauen. Die Kundgebung von Erdogans Anhängern fand statt, indem man Massen an Menschen mit freiem Essen und Getränken umsonst per Bus aus dem ganzen Umland zum Kundgebungsplatz karrte. In 8 Monaten sind Wahlen und er befürchtet, dass sich bis dahin alles beruhigt hat und Erdogan wiedergewählt wird. Bis jetzt gibt es auch keine Alternative. Er verabschiedete uns: Kommen Sie heute Abend auf eine Tasse Tee vorbei und wir retten zusammen die Welt!

Für mich waren es sehr spannende Tage und das Spiel um Macht und Geld ist überall das gleiche. Nur die Art der Auseinandersetzungen ist meiner Meinung nach jeweils anders, geprägt vom jeweiligen Land.

In diesem Sinne “ oben bleiben “
Ingrid

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Weitere Fotos aus Istanbul von Ingrid findet ihr in der Galerie.

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