Seit dem Jahr 2011 werden die Stuttgarter Bürger im Vorfeld der Haushaltsberatungen für den jeweiligen Doppelhaushalt der Stadt Stuttgart zum sogenannten „Bürgerhaushalt“ eingeladen.
Nachdem die Stadtteilgruppen des Widerstands gegen Stuttgart 21 sich letztes Mal stark engagiert haben und viele Forderungen einbrachten und unterstützten, sehen wir VertreterInnen der Stadtteilinitiativen dieses Verfahren mittlerweile mehr als kritisch. Wir reihen es ein in die Veranstaltungen zur strategischen Einbindung (wie die sogenannte Schlichtung, den Filderdialog oder sogenannte „Bürgerbeteiligungen“). Mittlerweile wissen wir, dass auch diese Methode mit freundlicher Unterstützung der Unternehmerlobby Bertelsmannstiftung in unserem Gemeinwesen Einzug gehalten hat (Info: www.lobbypedia.de/wiki/Bertelsmann_Stiftung).
Mit der eigentlich guten Idee „Bürgerhaushalt“, die aus Porto Alegre in Brasilien stammt, hat die hiesige Praxis nur den Namen gemein: sie wurde so verwässert, dass wir hier noch nicht mal über Brotkrümelchen abstimmen. Zudem geraten wir auch noch in Konkurrenz zueinander. Statt sinnvolle Spielgeräte für alle Schulhöfe zu fordern, versucht jede Schule Punkte für ihren Pausenhof zu sammeln.
Wir lassen uns nicht mehr einbinden in ein pseudo-demokratisches Verfahren, das nichts mit echter demokratischer Partizipation zu tun hat. Beim Stuttgarter Bürgerhaushalt haben wir kein Entscheidungsrecht, sondern nur Vorschlagsrecht. Ein gutes Abstimmungsergebnis führt nach Prüfung durch die Verwaltung noch nicht mal dazu, dass der Gemeinderat zwingend über einen Vorschlag berät und darüber abstimmt. Beim „Bürgerhaushalt 2014/15“ sind die 252 höchst bewerteten Vorschläge an den Gemeinderat gegangen. Nur über 188 der 2.943 eingereichten Vorschläge (das entspricht 6,3%!) wurde vom Gemeinderat beraten und abgestimmt.
Die allermeisten davon wurden abgelehnt. Ein Hauptthema der Bürger war z.B. der öffentliche Nahverkehr. Dazu stellt das offizielle Protokoll der Stadt zum Bürgerhaushalt lapidar fest: „Zu den Themen „Tarif-/Zonenstruktur im VVS“, Reduzierung von Fahrpreisen bzw. kostenloser ÖPNV“ und ähnlichen Anreizen für eine verstärkte Nutzung von Bussen und Bahnen in Stuttgart gab es eine ganze Reihe von Vorschlägen im Bürgerhaushalt, die aber vom Gemeinderat nicht aufgegriffen wurden.“ Trotz Dauerstau auf den Straßen und zunehmender Luftvergiftung durch Feinstaub wurden stattdessen die Fahrpreise im VVS zum 1.1.2015 weiter erhöht.
Einer der am höchst bewerteten Vorschläge im Bürgerhaushalt (Platz 15) forderte die Streichung aller städtischen Mittel für die S-21-Propaganda. Damit könnten jährlich 650.000 Euro gespart bzw. für sinnvolle Aufgaben verwendet werden. Dieser Vorschlag erhielt bei der Abstimmung im Gemeinderat nur die Stimmen der Fraktion SÖS und Linke. Entgegen der Bürgermeinung bewilligte die Stadt Anfang November 2013 sogar einen zusätzlichen Sonderzuschuss von 100.000 Euro für die Aktualisierung der Lügen im Turmforum.
Nein zu Mitmachfallen und Alibiveranstaltungen
Mit dem Bürgerhaushalt der Stadt Stuttgart wird der Sachverstand von BürgerInnen genutzt, aber sie werden nicht wirklich an den Entscheidungen beteiligt.
Wir haben nicht die Absicht, in die Mit-Mach-Falle zu tappen. Wir haben andere Vorstellungen. Unsere zentrale Forderung lautet: WIR wollen entscheiden.
Und zwar in Form direkter demokratischer Beteiligung. Was in der brasilianischen Millionenstadt Porto Alegre seit über 20 Jahren erfolgreich praktiziert wird und weltweit immer mehr Nachahmer findet, sollte der Maßstab für die Stuttgarter Praxis sein.
Wir wollen in den Stadtteilen tatsächlich an der Basis darüber diskutieren und beschließen, wofür das Budget ausgegeben werden soll. Soll man dieses Jahr erst die Schule oder erst das Schwimmbad renovieren? Soll erst ein Bürgerhaus gebaut werden oder soll man lieber die Schlaglöcher beseitigen? Die Verwaltung wäre dann quasi ausführendes Organ der Bürgerversammlungen. Die Entscheidungen fielen an der Basis.
Wenn es so bei uns liefe, wäre das in unseren Augen ein echter Bürgerhaushalt, bei dem wir gerne mitmachen würden. Bis dahin brauchen wir unsere Kraft, um die Dinge grundsätzlicher zu ändern – und nicht, um in stundenlanger Arbeit Vorschläge für den Bürgerhaushalt zu formulieren, zu lesen, zu bewerten und zu bewerben.
Herausgeber: Stadtteilgruppen gegen Stuttgart 21 Kontakt: buergerhaushalt@vk21.de
2 Antworten auf Bürgerhaushalt in Stuttgart: Eine kritische Bilanz