Eiermann-Campus – Offener Brief an den OB

Offener Brief der Initiative schönes attraktives Vaihingen e.V.

Betreff: Städtebauliche Entwicklung im Stadtbezirk S-Vaihingen ehemaliges IBM-Gelände bzw. „Eiermann-Campus“

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Kuhn,

unser Verein der Heimatkunde und Heimatpflege sieht die bisher bekannt gewordenen Absichten des Amtes für Stadtplanung und Stadterneuerung zur Entwicklung des ehemaligen IBM-Firmengeländes mit großer Sorge:

Wir stellen die Nachhaltigkeit der Absicht, gerade hier 193.000 qm Siedlungsfläche neu zu entwickeln, in Frage. Unsere Gründe legen wir Ihnen im Folgenden dar.
Wir möchten anregen, hier keinesfalls vorschnelle Entscheidungen zu treffen, sondern vorweg eine sorgfältige Abwägung aller Belange durchzuführen.

Bitte setzen Sie sich dafür ein, dass vor der Erstellung eines Bebauungsplan-Entwurfes
verschiedene Szenarien mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen, Risiken und Chancen öffentlich diskutiert werden, beispielsweise in Form eines städtebaulichen Rahmenplans, und zusätzlich flankiert von bürgeroffenen Planungswerkstätten oder einer Planungszelle, und zwar im betroffenen Stadtbezirk!

Ein Bebauungsplanverfahren kann solches bekanntlich nicht leisten.

Zur Örtlichkeit und dem Umfeld:
Hier soll ein Stadtteil neu gegründet werden, ungeachtet aller bisherigen, langjährigen und übergreifenden Siedlungsplanungen (Raumordnungsplanung, Flächennutzungsplanung).

Der Stadtbezirk Vaihingen hat in den letzten zwanzig Jahren überproportional viel an neuen Wohn- und vor allem an Gewerbeflächen zu Stuttgarts Entwicklung beigesteuert.
Hier gibt es längst mehr Arbeitsplätze (rund 60.000) als Einwohner (rund 45.000), ein in Deutschland nahezu einmaliges Verhältnis – nur die Daimler-Stadt Sindelfingen kann da mithalten. Dieses Ungleichgewicht trägt dazu bei, dass das Vaihinger Straßennetz ausgelastet ist, es gibt keine Kapazitätsreserven; in den Stoßzeiten kommt es zu langwierigen Staus, viele Wohngebiete werden durch Schleichverkehre entwertet, ja sogar die Schulwegesicherheit lässt sich auf mehreren Streckenabschnitten weder planerisch noch ordnungsrechtlich sichern.
Stuttgart-Vaihingen wurde aus guten Gründen 1996 als erster Stuttgarter Stadtbezirk in die Lärmminderungsplanung aufgenommen, es ist hier bis heute allerdings nicht leiser geworden. Der Stadtbezirk ist also hinsichtlich der negativen Auswirkungen des Siedlungswachstums bereits erheblich vorbelastet.
Hinzu kommt die vorhandene, aber noch nicht ausgeschöpfte Reserve an Leerständen im Gebäudebestand (v.a. Büroflächen), das längst erteilte Baurecht für bisher untergenutztes Gebiet mit dem Potenzial für weitere mindestens 20.000 Arbeitsplätze, und zusätzlich die jüngst begonnenen Bebauungsplanverfahren, wie beispielsweise am Vaihinger Bahnhof. All das ist bereits „Bestand“, der zur heutigen Belastung hinzuzuzählen und für den Vorsorge in der Erschließung zu treffen wäre! Derzeit muss verschärfend befürchtet werden, dass sich die bisherige gute ÖPNV-Anbindung des Stadtbezirks mit Bau der Rohrer Kurve und dem „Abhängen“ der Gäubahn im Zuge des Projektes S 21 wesentlich verschlechtern wird (vgl. gutachterliche Stellungnahme der Stadt Leinfelden-Echterdingen im laufenden Planfeststellungsverfahren).
Aus unserer Sicht ist der Stadtbezirk Stuttgart-Vaihingen daher für eine weitere Ausweisung von Baurecht denkbar ungeeignet.

Zur Entstehungsgeschichte:
Die Ausweisung des IBM-Areals, abseits der bestehenden Siedlungsgebiete, erfolgte ausnahmsweise, und zwar zugunsten damaliger Geheimhaltungswünsche des Unternehmens.
Solche Gründe liegen heute nicht mehr vor.
Es gibt heute keine raumordnerische oder landesplanerische Veranlassung, an gerade dieser Stelle eine Siedlungsentwicklung voranzutreiben.

Zum Standort selbst:
Der Standort weist (mit Ausnahme einer Buslinie, die zu den besten Zeiten im Halbstundentakt verkehrt) heute keinerlei öffentliche oder soziale Infrastruktur auf. Hier müsste die öffentliche Hand erheblich investieren.
Sie kennen sicherlich die langfristige Kosten-Nutzen-Darstellung für Neubaugebiete: „Von besonderer Relevanz sind die langfristigen Kosten zur Unterhaltung und zum Betrieb von Straßen, Stellplätzen, Grün-, Spiel- und Sportanlagen. Die meisten dieser Ausgaben belasten den Gemeindehaushalt unabhängig von der Einwohnerzahl“, stellt der Verband Region Stuttgart fest (in Schriftenreihe Bd. 25). Auch das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung warnt aufgrund der Folgekosten schon lange vor der Ausweisung bisher wenig oder schlecht erschlossener Flächen für zusätzliche Siedlungstätigkeiten.

Das Gebiet liegt abseits anderer Siedlungsbereiche, es bildet eine Exklave. Der Stadtbezirk Vaihingen ist schon heute, auch unter sozialen und kulturellen Gesichtspunkten, mit nicht-integrierten Lagen einer besonderen Belastung ausgesetzt: Weder das Campus-Gelände Pfaffenwald noch die Patch Barracks (EUCOM-Zentrum) ließen sich in den letzten Jahrzehnten in das Ortsgeschehen richtig integrieren.

Selbst wenn hier private Investoren für eine gewisse Grundausstattung sorgen wollten, würden sich solche Einrichtungen kaum selbst tragen können, dazu ist die angestrebte Bruttogeschossfläche wiederum zu gering. Nicht einmal ein kleiner Supermarkt könnte hier „überleben“.
Das Autobahnkreuz Stuttgart-Vaihingen liegt heute, gemessen am Verkehrsaufkommen, auf Platz 3 in Deutschland. Mit dem bereits im Bundesverkehrswegeplan 2003 beschlossenen Ausbau sowohl der A8 als auch der A 831 um je einen Fahrstreifen pro Richtung plus Freigabe der Standstreifen für den fahrenden Verkehr dürfte es auf Platz 1 aufrücken.
Es ist nicht glaubhaft, dass die von diesen Verkehrsträgern ausgehenden Luftschadstoffe und Lärmemissionen unschädlich für die menschliche Gesundheit sein sollen, während deutlich weiter entfernte Siedlungsgebiete in Vaihingen (wie z.B. das Gebiet Steinengarten) bereits heute aufgrund von deren Immissionen rigiden Einschränkungen in Bau und Nutzung unterworfen sind.
Auf das IBM-Gelände wirkt nicht nur Straßenlärm, sondern auch Fluglärm ein. Hier wird tags und nachts im Sichtflugverkehr geflogen, das amerikanische Militär unterliegt dabei auch keinerlei Einschränkungen hinsichtlich der Flughöhe: „Konturflüge“ von rotorgetriebenen (d.h. Überschall- ereignisse auslösenden) Maschinen, knapp über Baumwipfelhöhe, sind hier üblich.
Zwar hat Baubürgermeister Matthias Hahn in öffentlicher Sitzung vor Kurzem erklärt, dass es heute Bau-Standard sei, Fenster nicht mehr öffnen zu können. Noch aber ist der Mensch ein Wesen, das sich auch außerhalb geschlossener Räume aufhalten möchte – und dies für seine physische und psychische Gesundheit zudem viel öfter tun sollte.

Das NSA/CSS European Representative Office (NCEUR) ist das Europabüro der NSA, welche jüngst für eine hemmungslose, flächendeckende Datenschnüffelei bekannt wurde, der anscheinend seitens des deutschen Staates auch keine Barriere entgegen gesetzt werden kann.
Untergebracht ist das Europabüro der NSA in den Patch Barracks, nur 1 km Luftlinie vom
ehemaligen IBM-Gelände entfernt.
Welches innovative Unternehmen, welche Forschungseinrichtung wird sich hier ansiedeln wollen?

Zum Denkmal-Charakter:
Der besondere Denkmal-Charakter gerade dieses Gebäude-Ensembles ergibt sich aus zwei Gründen:

  • Das Wirken Egon Eiermanns ist hier „bis ins Detail“ nachvollziehbar.
  • Die sensible Einfügung der Gebäude in die Umgebung, das Zurücktreten der Bauten gegenüber der Landschaft ist einmalig (weshalb es als „Sachgesamtheit“ ausgewiesen ist).

Zum ersten Punkt:
Die Bauwerke wurden für die Bedürfnisse eines bestimmten Nutzers (IBM) entwickelt und für diesen passgerecht umgesetzt. Gerade ihre „Passgenauigkeit“ bildet aber nun ein Problem, denn dafür gibt es eben keinen Nutzer mehr. Egon Eiermann selbst pflegte ein sehr entspanntes Verhältnis zum Denkmalschutz: So nahm er den Abriss eines architektonischen Jahrhundertbauwerks, des Kaufhauses Schocken von Erich Mendelson
in der Mitte Stuttgarts trotz massiver Proteste der Bevölkerung in Kauf, um dort einen seiner Neubauten zu realisieren. Er selbst begründete dies damit, dass das Gebäude seinen Funktionen nicht mehr gerecht würde. Auch seine eigenen Werke sah er als „Bauten auf Zeit“ an.

Zum zweiten Punkt:
Dieser wird sich mit dem Bau weiterer großer Häuser erledigen. Denn das beabsichtigte Konzept z.B. mit dem Bau von „Landmarken“ (Höhe, Baumasse) stellt das Gegenteil dessen dar, was Egon Eiermann und Walter Rossow planten und umsetzten. Das vorgelegte Konzept, das vorgeblich dem Schutz des Denkmals dienen soll, wird das Denkmalwürdige komplett entwerten.

Ohne die Bedeutung des Denkmalschutzes schmälern zu wollen: Er darf nicht dauerhaft unwirtschaftlich sein, ohne der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stehen. Noch ist das gesamte Gelände in privater Hand!
Der Denkmalschutz darf auch nicht zulasten der menschlichen Gesundheit oder mit gravierenden Auswirkungen auf die Umwelt einher gehen.

Widersprüche in der Planung selbst:
Die Nutzfläche soll verfünffacht werden (von 40.000 auf 193.000 qm), die Parkierungsflächen sollen auf ein Fünftel zusammenschmelzen (von 2.500 Stellplätzen auf 420 Stellplätze in einem Parkhaus).
Wie soll eine solche Erschließung für den ruhenden Verkehr an diesem Standort, der bisher praktisch nur mittels des motorisierten Individualverkehrs erreichbar ist, je funktionieren?
Bis dato konnten 40.000 qm v.a. wegen ihrer „Großflächigkeit“ nicht vermarktet werden. Es leuchtet nicht ein, dass dann 193.000 qm an derselben Stelle besser vermarktbar sein sollten.

Wir bitten Sie, dies zu bedenken und fordern Sie aus diesen Gründen nochmals auf, vor der Erstellung eines Bebauungsplan-Entwurfes verschiedene Szenarien mit ihrem jeweiligen Vor- und Nachteilen, Risiken und Chancen einer breiten öffentlichen Diskussion im Stadtbezirk Stuttgart-Vaihingen zuzuführen.

Mit freundlichen Grüßen

gez.

ISA e.V. Vorstand und Mitglieder

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